Jahresendgedanken 2016.

Von Horst Kläuser

Es wäre leicht, und es ist verführerisch, sich am letzten Tag des Jahres dem beklagenswerten Zustand der Welt hinzugeben und – so wie ich es selbst ein paar Mal in den letzten Wochen getan habe – vom Elend hinweg tragen zu lassen: Diktatoren und Autokraten ruinieren ihre eigenen Länder und die ihrer Nachbarn, Populisten schicken sich an, die Meinungsführerschaft an sich zu reißen und sogar ganze Demokratien zu gefährden. Arme Staaten erleben einen traurigen Exodus ihrer hungrigen Bürger, die aber in unserer Welt höchst unwillkommen sind. Terror macht Angst und der übereilte Kampf dagegen ebenso.
Darüber zu schreiben wäre wohlfeil und einfach. Ein jeder hätte weitere Untergangsszenarien beizutragen. Ich wage den Gegenentwurf.
Die Bestandsaufnahme meines Lebens in Deutschland macht mich demütig. Ich lebe in der freiesten Gesellschaftsordnung, die es auf deutschem Boden je gegeben hat. Diese Freiheit ist allerdings kein ewiger Monolith, unangreifbar und ungefährdet, sondern ein steter Prozess, der erarbeitet, erworben und ständig neu verdient werden muss. Der lohnende Gewinn ist eine Toleranz, auch wenn sie dauernd auf harte Proben gestellt wird. Auch Toleranz ist keine Einbahnstraße. Das Ergebnis ist dennoch ein Deutschland im Jahre 2016, das seinesgleichen sucht. Im Weltmaßstab, übrigens. Wer nun ausschließlich glaubt, damit sei der materielle Wohlstand gemeint, der ebenfalls enorm ist, vergisst, dass unser Leben von so vielen Dinge geprägt ist, die auf eine bizarre Art und Weise für selbstverständlich gehalten werden, aber alles andere als das sind.
So reisen wir, gehen, wohin wir wollen, wohnen wo, wie und mit wem wir wollen. Zu lesen, schreiben und sagen, was wir wollen, zu demonstrieren, wogegen wir wollen, ist mindestens 80 Prozent der Menschen auf dieser Erde nicht vergönnt, aber uns in Deutschland. In einem Staat zu leben, der seinen Bürgern, sauberes, gesundes Trinkwasser überall garantiert, die Lebensmittel auf einem Niveau kontrolliert, das vor Jahrzehnten undenkbar gewesen wäre, eine Medizin vorhält, die zu den besten Systemen weltweit gehört – das alles führt auch zu einer explosionsartig steigenden Lebenserwartung. Nie hatten mehr Menschen in Deutschland Arbeit, nie waren die Straßen sicherer. Die Polizei und die Justiz in Deutschland sind nicht korrupt, ebenso wie 99 Prozent der Politiker. Das nennt sich Rechtsstaat und ist vermutlich die größte politische Errungenschaft der letzten einhundert Jahre. Drei Generation leben deshalb in Frieden, mitten in Europa, in den Nachbarschaft unserer einst ärgsten Feinde, die längst enge Freunde sind. Wir haben neun Grenzen zu Staaten, die wir ohne anzuhalten, passieren. Was für ein Leben!
Unsere Flüsse haben beinahe Trinkwasserqualität, die Luft ist viel besser als vor 30 Jahren, immer größere Anteile der überall und reichlich verfügbaren Energie kommt aus erneuerbaren Quellen. Wir halten soziale Netze für Familien, Arme, fast alle Krankheiten und psychischen Befindlichkeiten vor, erleben heftige, kontroverse Debatten, fruchtbaren Streit um Dinge, die in anderen Ländern einfach „von oben“ entschieden würden. Bildung ist kostenlos, Universitäten, nicht anders als Schulen. Um unser duales System beneidet uns die Welt.
Die weitaus meisten Menschen in unserem Land stehen, auch ohne unbedingt einer Konfession anzugehören, zu universellen Grund- und Menschenrechten, achten und genießen sie gleichermaßen. Sie sind bereit – auch wenn Ausnahmen vermeintlich das Gegenteil suggerieren – zu Empathie, Hilfsbereitschaft und zum Teilen.
Deutschland ist ein gutes Land, ein Land, das sich um Fairness und Ausgleich bemüht, eines das sich Ansehen nicht mit Aufrüstung und militärischer Aggression verdient, eines, in dem ein Regierungswechsel so normal ist wie die Jahreszeiten. In diesem Land haben die Menschen mühevoll und nicht immer von Anfang an voller Einsicht gelernt, Minderheiten zu respektieren. Diesen Respekt dürfen wir auch von anderen einfordern – unserer Gesellschaft und unseren Werten gegenüber. Von solchen einfordern, die als neue Nachbarn zu uns kommen. Das zu lehren und zu lernen, gelingt nicht mit dem „Holzhammer“, sondern durch das Vorleben und gute Beispiele. Hier sind wir alle gefordert. Und erstaunlicherweise glaube ich bis heute: wir schaffen das!
Das Menschenbild, das in Deutschland entstanden ist, ist eines von Gleichberechtigung, Respekt und Toleranz. Nein, ich korrigiere, angestrebt wird es. Immer noch. Doch um es weiter zu vollenden, bedarf es nach wie vor einer großen Anstrengung der Anständigen. Sie sind nicht die Gralshüter der sozialen Wahrheit oder des materiellen Wohlstands, sondern die Verantwortlichen für den Zusammenhalt. Es liegt an uns, den mit Gesundheit, Arbeit und Wohnung Gesegneten, uns, den gut Ausgebildeten und tolerant Überzeugten, den Weitgereisten und den über-den-Tellerrand-Hinausschauenden Hände auszustrecken und Herzen zu öffnen.
Wer jetzt sein Heil im Meckern sucht, hat die Chancen für 2017 schon vertan, bevor das neue Jahr sich aus den Rauchwolken der Feuerwerksraketen herausschält.
Glückauf!
PS – bevor jeder einzeln fragt: ja, der Text darf geteilt werden. Gern sogar: ich bin schließlich Journalist, nicht Eremit…. 🙂

Kommentar (1) Schreibe einen Kommentar

    • Stefan Wiersbin
    • 31.12.16, 16:38 Uhr

    Danke

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